Dienstag, 4. August 2015

Tätowierung (1967) Johannes Schaaf

Inhalt: Benno (Christof Wackernagel) wird von allen Jungs seiner Erziehungsanstalt so lange gejagt, bis sie ihn endlich erwischen. Doch er rückt auch dann nicht mit der erwünschten Information heraus, als einer der Kameraden ihn mit einem Bohrer quält. Bevor dieser zu weit gehen könnte, taucht der Direktor der Anstalt auf, um Benno zu holen, da er an diesem Tag entlassen wird. Der Unternehmer Herr Lohmann (Alexander May) hat den 16jährigen adoptiert und nimmt ihn mit zu sich nach Hause.

Während der Junge schweigend neben ihm herläuft, stellt ihm Herr Lohmann stolz seine Firma vor und zeigt ihm sein zukünftiges eigenes Zimmer. Zudem hat er ihm ein Motorrad gekauft und eine Lehrstelle als Koch besorgt, so dass Benno schnell sein eigenes Geld verdienen kann. Für Benno ist das alles sehr fremd, einzig seine neue Stiefschwester Gaby (Helga Anders), die ebenfalls von dem Ehepaar Lohmann adoptiert wurde, gefällt ihm. Obwohl sein neuer Stiefvater ihm alle Freiheiten lässt, fällt es dem Jungen schwer, sich auf das bürgerliche Leben einzulassen…



Johannes Schaafs Haupt-Interesse galt der Literatur und dem Theater. Schon früh inszenierte er Michel Vinaver ("Hotel Iphigenie" (1964)) im TV oder übernahm eine Rolle in Thornton Wilders "Unsere kleine Stadt" (1967) - drei seiner vier Kinofilme basieren auf Romanen. Nach "Momo" (1986) übernahm er nur noch Theater- und Operninszenierungen. Einzig sein erster Kinofilm "Tätowierung" entstand nicht nur nach einem von ihm selbst verfassten Originaldrehbuch,Schaaf reagierte damit auch unmittelbar auf die gesellschaftspolitischen Veränderungen in Westdeutschland, als sich der Generationskonflikt immer mehr zuspitzte. Die Konsequenz seines Films nahm nicht nur die Radikalisierung der Studentenbewegung vorweg, die Besetzung des späteren RAF-Mitglieds Christof Wackernagel in der Rolle eines aufsässigen Jugendlichen und dessen Rollenname Benno (der Student Benno Ohnesorg wurde am 02.06.1967 von einem Polizisten bei einer Demonstration erschossen, Schaafs Film lief erstmals bei der BERLINALE im selben Monat) verleiht "Tätowierung" einen beinahe prophetischen Anstrich.

Vielleicht einer der Gründe, warum Schaafs damals vielfach ausgezeichneter Film in Vergessenheit geriet, in den 70er möglicherweise sogar geächtet wurde - mir, im Jahrzehnt nach seiner Entstehung sozialisiert, war der Film bis vor kurzem unbekannt. Dank FILMJUWELEN liegt "Tätowierung" endlich in adäquater Form vor und führt mich zu einem weiteren persönlichen Thema - West-Berlin. Anlass für mich, Filme, die den Geist dieser Phase einfingen und die damit einhergehenden Veränderungen dokumentierten, ein eigenes Kapitel auf meinem Blog zu widmen. 


"Vergänglichkeit" - aus heutiger Sicht betrachtet scheint alles in Johannes Schaafs erstem Kinofilm "Vergänglichkeit" auszudrücken, obwohl er mit dem Filmtitel "Tätowierung" das Gegenteil betonen wollte - die gesellschaftliche Klassifizierung eines Menschen ohne Aussicht auf Veränderung. 1967 befand er sich mit dieser kontrovers diskutierten Thematik auf der Höhe der Zeit, mitten im Aufbruch einer sich der Moderne öffnenden Nachkriegsgeneration. Wirtschaftliche Prosperität, Chancengleichheit, Emanzipation und freie Sexualität waren in vollem Gang, die Erfüllung lang gehegter Bestrebungen schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Wer immer noch glaubt, die 68er Bewegung wäre die Initialzündung für die heutige Sozialisation gewesen und nicht überfällig nach zwei Jahrzehnten gesellschaftlichen Wandels seit dem Kriegsende, wird in "Tätowierung" eines Besseren belehrt. Und trotzdem wirkt alles an Schaafs Film vergangen - die Stadt, die Menschen, die Kontroverse und in Konsequenz daraus auch sein Film.

Fabrikgebäude Puhl & Wagner - 1972 abgerissen
Vordergründig steht dafür der Drehort unmittelbar an der Berliner Mauer, das Fabrikgebäude der traditionsreichen Keramikfirma Puhl & Wagner, das vom Architekten der Kaiser-Wilhelm-Kirche, Franz Schwechten, 1903 erbaut wurde. Es musste 1972 einer Straße entlang der Mauer weichen, nachdem die Stadt Berlin es vom Konkursverwalter erworben hatte. 1967, als Johannes Schaaf dort drehte, befand sich die Firma zwar schon seit Jahren im Niedergang, war aber noch aktiv, was der Authentizität als Hintergrund eines von Herrn Lohmann (Alexander May) geführten Familienbetriebs sehr dienlich war. Wiederholt beschreibt er gegenüber seinem Adoptivsohn Benno (Christof Wackernagel) die Geschichte der vom Großvater gegründeten Firma - ein wichtiger Aspekt in dem sich zuspitzenden Generationskonflikt - die dank der Location von größter Glaubwürdigkeit ist. Angesichts der intakten Innenräume mit den wertvollen Mosaiken an den Wänden und des gut erhaltenen Fabrikgebäudes erschließt sich bei Betrachtung des Films erst die Dimension dieser jeden denkmalpflegerischen Gedanken missachtenden Vorgehensweise der Stadt.

Steilwandkurve der Avus - 1967 abgerissen
Auch die zur Avus gehörende Steilwandkurve, auf der sich junge Motorradfahrer in Schaafs Film noch austoben, überlebte die Dreharbeiten nur kurz und wurde 1967 abgerissen, um den Anschluss der Autobahn an den Berliner Ring neu zu ordnen – eine Neuordnung, die symbolisch für den Film steht. Herr Lohmann ist geradezu besessen davon, die alten gesellschaftlichen Regeln auszuhebeln. Er und seine Frau (Rosemarie Fendel) haben zwei Jugendliche aus schwierigen Verhältnissen adoptiert, neben dem 16jährigen Benno noch die wenig ältere Gaby (Helga Anders). Allein schon Heranwachsende dieses Alters aufzunehmen, birgt ein großes Risiko, aber Herr Lohmann will weit darüber hinaus. Seine Vorgehensweise erinnert an eine Versuchsanordnung, mit der er beweisen will, dass Jeder in der BRD dieselben Chancen zu einem sozialen Aufstieg hat. Er spendiert Benno zu humanen Konditionen ein Motorrad, organisiert ihm eine Ausbildungsstelle und verliert auch nicht die Geduld, als der Junge sich nicht an die Abmachungen hält. Im Gegenteil besorgt er ihm einen neuen Job und unterstützt sogar Bennos erste sexuelle Erfahrungen mit Gaby in der gemeinsamen Wohnung.

Herr und Frau Lohmann
Immer wieder betont er dessen Zugehörigkeit zur Familie, bewahrt auch bei kritischen Äußerungen einen ruhigen Gestus, nur fehlt Herrn Lohmann gegenüber Benno jede Empathie. Emotional ist er in der Vergangenheit stehengeblieben, von der er gerne wortreich erzählt, dabei immer die Phase des Nationalsozialismus ausklammernd. Auch die Beziehung zu seiner Frau verweist noch auf die traditionellen Geschlechterrollen, so modern sie sich äußerlich geben. Über die Funktion als unterstützende Arbeitskraft in der Firma kommt sie nicht hinaus, während sein erotisches Interesse an seiner hübschen Stieftochter latent spürbar bleibt. Es wäre zu kurz gegriffen, Herrn Lohmanns liberale und selbstlose Außendarstellung nur als verlogen zu bezeichnen – sie steht zugespitzt für eine Nachkriegsgeneration, die gezwungen wurde, ihre anerzogenen Maßstäbe in Frage zu stellen. Hinsichtlich seiner „eintätowierten“ Prägung ähnelt seine Situation der Bennos.

Gaby und Benno
Den 16jährigen auf ein Kind aus einfachen Verhältnissen zu reduzieren, das sich in der bürgerlichen Gesellschaft nicht einfinden kann, oder ihn gar als Revoluzzer gegen das Establishment zu begreifen, bliebe an der Oberfläche. Diese Assoziation ist mehr dem Lebensweg Christof Wackernagels zu verdanken, dessen Verkörperung eines unangepassten Jugendlichen aus heutiger Sicht beinahe wie ein Menetekel wirkt. In Folge der späten 60er Jahre zunehmend politisiert, schloss er sich Mitte der 70er Jahre der RAF an. Nach Gefängnisaufenthalt und Auslandsjahren fand er in den 90er Jahren den Weg zurück in den Schauspielberuf. Im Gegensatz zur damals 19jährigen Helga Anders, deren Rolle in „Tätowierung“ sie weiter als verführerische Kindfrau festlegte – ein Klischee, dem sie bis zu ihrem frühen Tod nicht mehr entkam. Schaaf inszenierte ihren Charakter zwar zurückhaltend, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie wie Benno eine Verlorene ist, auf der Suche nach Nähe und Verständnis. Gefühle, die ihnen das Ehepaar Lohmann nicht geben kann.

Benno und die anderen Jungs in der Erziehungsanstalt
Dank ihrer Attraktivität kommt Gaby scheinbar zurecht, Benno muss dagegen erfahren, dass weder der Ex-Häftling Sigi (Heinz Meier), mit dem er sich angefreundet hatte, noch seine früheren Kameraden aus der Erziehungsanstalt, deren Zorn er sich schon vor der Adoption zugezogen hatte, seinen Wunsch nach Geborgenheit erfüllen können. Und als er begreift, dass auch sein Zusammensein mit Gaby keine Tiefe besitzt, bleibt nur noch Herr Lohmann, dessen hartnäckiges Aufrechterhalten einer heilen Fassade für ihn zu einer unerträglichen Provokation wird. Benno zerstört nicht den Menschen Lohmann, sondern dessen Ignoranz gegenüber der Realität und den dadurch verursachten Stillstand. Die Beurteilung des Endes hängt vom jeweiligen Standpunkt ab. Aus bürgerlicher Sicht eine Katastrophe, für Benno ein Moment des Glücks und im Film die Konsequenz aus einem nur nach außen hin behaupteten Veränderungswillen.

Trotz seiner klar strukturierten, jede emotionale Zuspitzung vermeidenden unterhaltenden Erzählweise geriet der Film in Vergessenheit. Die Modernisierung der Gesellschaft schritt voran und ließ den Eindruck entstehen, die „Tätowierung“ der Menschen gehöre der Vergangenheit an. Ein Irrtum – Schaafs Film blieb bis heute von höchster Aktualität.

"Tätowierung" Deutschland 1967, Regie: Johannes Schaaf, Drehbuch: Johannes Schaaf, Günter Herburger, Darsteller : Christof Wackernagel, Helga Anders, Alexander May, Rosemarie Fendel, Heinz Schubert, Heinz MeierLaufzeit : 82 Minuten

weitere im Blog besprochene Filme von Johannes Schaaf:

"Trotta" (1971)

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